„Pöseldorf ist Champagner mit Kippe“

PR-Managerin Sylvie Kahl kennt Hamburg wie den Eventkalender des Zwicks. Vom Sauvignon Blanc auf der Terrasse der Clermont bis zum Ratsherrn im Bierkrug – in Pöseldorf weiß sie, wie man mühelos auffällt.

Sylvie Kahl isst ein Stück Pizza in der Clermont Weinbar in Pöseldorf

Sylvie Kahl, 32, PR-Managerin aus Pöseldorf

Die Heizstrahler auf der Terrasse der Clermont Weinbar am Mittelweg werfen ein warmes Licht auf den Herbstabend. Sylvie sitzt mir gegenüber, ein Glas Sauvignon Blanc in der Hand, blondes Haar umspielt die Schultern, rote Nägel, schwarzer Blazer, filigraner Goldschmuck. Zurechtgemacht für die schöne Bar im nobelsten Viertel der Stadt. Sie lächelt viel, ohne dass es bemüht wirkt, und greift nach der Pizza aus dem Karton, als wäre es Kaviar. „Das ist Pöseldorf“, sagt sie zwischen einem Schluck Wein und einem Bissen, „schick, aber man darf die Pizza aus dem Karton essen.“ Der Wirt grüßt sie mit Namen, bringt Besteck – hier ganz selbstverständlich. 

Sylvie Kahl ist PR-Dame, Anfang 30, elegant, charmant, aufmerksam – Darstellung gehört in ihrer Branche zum täglichen Brot, noch viel mehr Zugänglichkeit. Seit Jahren wohnt sie in Pöseldorf, hier landete sie nach ihrem Studium in München eher zufällig. „Hier hast du das Grüne, aber auch Bars, Kneipen und Restaurants“, sagt sie. „Viele halten es für Etepetete, dabei ist es besonders locker.“ Sie lacht, ein Lachen, das warm und selbstbewusst zugleich wirkt, und ihr Cartier Tank fängt das Licht der Heizstrahler ein – ein Geschenk ihres Vaters. 

Wir laufen zur Milchstraße, Herbstwind weht, Straßenlaternen spiegeln sich auf nassem Pflaster. Ein Spaziergang durch Pöseldorf, durchs dickste Pöseldorf: Porsches, G-Klassen, renovierte Altbaufassaden, kleine Bars dazwischen. Hier hatte der Salonlöwe Gunter Sachs in den 70er-Jahren im Hinterhof eine Galerie, stellte Warhol aus und brachte die Welt nach Hamburg. Sylvie bewegt sich so, dass man sofort merkt: Sie gehört hierhin. „Hier mischen sich Jung und Alt, ganz ohne irgendeine Erwartungshaltung – anders als auf der Schanze, wo die Leute nur so tun, als sei es entspannt. Dort ist alles Performance. Hier nicht. Hier darf man einfach man selbst sein.“  

Zwischen Eleganz und Alltag: Pöseldorf kann alles, was die Schanze nur vorspielt

Im Bierkrug, einer Traditionskneipe, bestellt sie einen Ratsherrn als Absacker. Studenten in Ralph Lauren, alte Herren im Maßanzug, Paul Simon im Hintergrund, Rauch in der Luft. Hier fühlt sich die geborene Bremerin zuhause. Die Menschen wiederholen sich, es sind vertraute Gesichter in einem kleinen Dorf, man erkennt sie in anderen Lokalen, auf der Straße, in Cafés. „Niemand erwartet Inszenierung, obwohl es teils sehr schick ist. Hier kann man sich von gesellschaftlichen Zwängen lösen“, sagt sie, während sie die Marlboro Red ausdrückt. Zwei einzelne Rosen stehen in einem Bierkrug neben uns, Taxen ziehen an den bodentiefen Fenstern vorbei. 

„Pöseldorf ist Champagner mit Kippe“, sagt sie trocken. Sylvie wirkt mühelos, bewusst und präsent zugleich: Sie spricht, lacht, beobachtet, zieht das Leben an sich. In Hamburg denkt jeder, er müsse etwas sein, sobald das Glas 20 Euro kostet. Sylvie nicht. Sie ist einfach jemand, der es ist. Der wahre Luxus liegt hier: zu sein, abseits jeder Inszenierung und Überhöhung der eigenen Person. 

Zwischen Mittelweg und Milchstraße, Sauvignon Blanc und Ratsherrn ist klar: Sylvie ist der Kontrast, der Pöseldorf so lebenswert macht. Schick und dennoch zugänglich – in Hamburg, in Pöseldorf, in dieser kleinen, lebendigen Enklave, die man zu Recht Dorf nennt. 

Neele Suckert

Neele Suckert

Neele lebt in Hamburg, schreibt über Frauen, die sie mit scharfem Blick beobachtet, und über die Stadt, die sie ganz besonders liebt. Ihre bevorzugte Schreibumgebung: irgendwo zwischen Alsterblick und Aperitif.

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